Das Rheingold

Eine politische Parabel – Regisseur Paul-Georg Dittrich erzählt über seine Inszenierung

Zum 100-jährigen Jubiläum der Bayreuther Festspiele löste der damals 31-jährige Patrice Chéreau 1976 mit seiner Neuinszenierung von Richard Wagners RING DES NIBELUNGEN wüste Proteststürme aus. Am Ende wurde die Produktion jedoch zum „Jahrhundert-Ring“ glorifiziert. Heute kann man noch immer landauf, landab unterschiedliche Inszenierungen bestaunen. Auffallend markant ist dabei, dass in der Regie zumeist ein Rückzug ins Private der Figuren im Fokus steht und ein großer Bogen um die märchenhaften Aspekte der Oper gemacht wird. Dem möchte ich respektvoll eine kühne These gegenüberstellen: Wagners visionäre Warnung vor empathielosem Kapitalismus und Machtstreben ohne Rücksicht auf den Erhalt von Natur und Menschheit scheint vielleicht manchem auf den ersten Blick möglicherweise zu pathetisch und belehrend, obwohl die Botschaft angesichts der heutigen politischen Lage so aktuell ist, wie lange nicht mehr. Es kann kein Zweifel darüber geben, dass der RING eine politische Parabel ist, in der die Geschichte einer durch Politik ruinierten Welt erzählt wird, und Wagner erzählt diese Geschichte, um mit der Politik abzurechnen – nicht nur mit der Politik seiner eigenen Zeit, sondern mit dem, was er unter Politik verstand. Denn entgegen dem herrschenden Verständnis ist ihm die Politik nicht ein Medium der Verständigung und des Zusammenhalts einer Gesellschaft, sondern ausschließlich der Sphäre von Machtbesessenheit, von Gewalt, Sündenfall, Raub der Natur und Korruption – sie ist ihm der Inbegriff all dessen, was als negative Eigenschaften des Menschen in diesen Bereich projiziert werden kann.

In einem Brief Wagners an August Röckel heißt es: „Eins steht über allem: Die Freiheit! Was ist aber Freiheit? Etwa – wie unsere Politiker glauben – Willkür – gewiss nicht? Wahrhaftigkeit. Wer wahrhaft, d. h. ganz seinem Wesen gemäß, vollkommen im Einklang mit der Natur ist, der ist frei; der äußere Zwang ist nur dann (seinem Sinne nach) erfolgreich, wenn er die Wahrhaftigkeit des Bezwungenen tötet. Wenn dieser heuchelt, und sich wie anderen glauben machen will, er sei ein andrer als er wirklich ist. Das ist die wahre Knechtschaft.“

DIE LUST AM MÄRCHENHAFTEN: ZWISCHEN REALITÄT UND FANTASIE
Entgegen der Tendenz, den RING in private Figurenkonstellationen und gegenwärtige soziale Muster zu übersetzen – und sich dabei den reizvollen „Hindernissen“ einer theatralisierenden Übertragung von Riesen, Göttern, Tarnhelm, Kröte und Drachen zu entziehen – empfinde ich eine unbändige Lust, mich in die üppige Märchenwelt Richard Wagners zu vertiefen. Ist es nicht wunderbar, wie eitel und zugleich vital Alberich ist: Er kann einen Lindwurm und eine Kröte spielen. Das wirkt naiv, fast kindlich, ohne kindisch zu sein. Und es berührt mich, dass wir uns daran erinnern können, dass wir auch einmal Kinder waren. Im Herzen des Werkes geht es um „Spielen, Kreieren, Zerstören und Aufbauen“ – eine Ode an das Theater und seine Kraft als Traum- und Fantasiemaschine, aber auch ein Spiegel der Gesellschaft. Aus dieser Perspektive ist RING DES NIBELUNGEN eine gesellschaftspolitische Parabel im Gewand eines Erwachsenen-Märchens, in dem der Abgesang der Natur und der Fantasie schonungslos auf den kalten Hochofen der Politik trifft.

DAS RHEINGOLD: LESART
Kinder sind der Ursprung der Welt. Eine Märchenwelt, wo Drachen, Riesen, Götter ohne Interpretation oder Übersetzung existieren können. Das ist für mich der Kern des RINGS. Am Anfang sind die Kinder noch unberührt, noch kennen sie weder den Unterschied von Gut und Böse, noch den von Frau und Mann. Es geht um den Sündenfall und die Vertreibung aus dem unschuldigen Märchen-Paradies. Der Verfall des Märchens in eine kalte, dekonstruierte Welt.

Der Ring verleiht dem Ringträger unendliche Macht. Wiederum ist der Ring ein Objekt, das von Menschenhand geschaffen und vor allem geformt wurde. Der Ring – in seinem Material, in seinem Ursprung – entspringt einem Naturelement: dem Rheingold. Das Rheingold ist das unbearbeitete, naturbelassene Gold in seiner Ursprungsform. Das Rheingold gab es seit jeher, erst der Mensch selbst – Alberich, – raubt und formt dieses Rheingold zum Ring und entfacht somit seine wahre, dunkle Macht. Soweit die naheliegende Analyse der Gegebenheiten in Wagners RING-Tetralogie.

DER NEUE KÖLNER RING
Unser Rheingold ist kein Metall. Der Ursprung, das Naturbelassene, unberührte Element ist der Mensch selbst in seinen Anfangszügen: KINDER! Sie repräsentieren die Null-Ebene, den Beginn, den Anfang, das Unbedarfte, das Urvertrauen. Oder, um mit den Worten von Alexander Kluge über Schillers Spieltheorie zu sprechen: „Wenn man den Blick von Kindern in den ersten Tagen ihres Lebens beobachtet, bemerkt man eine eigenartige Mitgift oder Begabung. Alle Menschen, die in der Evolution überlebten, haben diese Eigenschaft, das Urvertrauen. Diese jungen Lebewesen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es die Welt mit ihnen gut meint. Das nennen wir das Urvertrauen. Es reicht für ein ganzes Menschenleben, und Menschen, die es völlig verlieren, verlieren die Kraft weiterzuleben.“ Des Weiteren erkennt Schiller in jedem spielerischen Ansatz im Leben einen potentiell revolutionären Funken.

Aus dem Rheingold wird der Ring geschmiedet. Und damit wird das bearbeitet, was Kindern innewohnt, was sie so besonders macht. Was jeden Menschen so wertvoll und einzigartig macht: Die Fantasie. Der Ring steht in unserer Lesart symbolisch für die instrumentalisierte Fantasie der Kinder. Aus Spiel wird Ernst.

Der jeweilige Ring-Träger benutzt für seinen Willen und seine Absichten die Fantasie, die Sehnsüchte und Imaginationskraft der Kinder. Er presst diese wie eine Zitrone aus und produziert dadurch nicht nur Schrecken und Angst, sondern nutzt die fantastische Kraft, die den Kindern innewohnt für seine individuellen, egoistischen, habgierigen Zwecke. Dieses Prinzip kommt uns allen bekannt vor und ist zudem auch zeitlos. Jedes politische System, jeder Machthaber, jeder Diktator oder Revoluzzer von gestern, heute und morgen arbeitet genauso und nutzt die Ängste, Sehnsüchte, Träume und Nöte seines Volkes aus.

Aus dem Ursprung der Welt entwickelt sich ein Drama. Ein Drama über den Anfang, das Unberührte und über dessen Untergang. Die Natur steht sinnbildlich für die grenzenlose Fantasie. Ihr Träger, Kinder.

Das Rheingold

Vorabend zum Bühnenfestspiel DER RING DES NIBELUNGEN Libretto vom Komponisten In deutscher Sprache mit Übertiteln
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