SAUL
DIE THEATRALIK DER BÜHNE DIRECTOR’S NOTE: BARRIE KOSKY
Wenn man Händels Oratorien auf die Bühne bringt, muss man theatralische Mittel und Formen finden, um ein episches und universelles Drama darzustellen. Die Herausforderung für Regisseur*innen und Dirigent*innen besteht darin, einen roten Faden zu spinnen, damit der Abend nicht nur aus einem Sammelsurium guter Nummern besteht, die durch ein bisschen Drama zusammengehalten werden.
Peter Sellars hat dies in seinen inszenierten Händel-Oratorien auf brillante Weise gezeigt, indem er das dramatische Momentum aus dem emotionalen Spiel der Figuren entwickelt, das wiederum Händel mit seinem außergewöhnlichen Verständnis für menschliche Psychologie durch seine Musik vorgibt. Unsere Aufgabe ist es, dem Ganzen eine theatralische Form zu schenken, denn diese gibt uns Händel nicht vor.
Wenn man Händels Oratorien auf den Spielplan setzt, sagen viele Kritiker*innen, diese Stücke seien nicht für die Bühne geschrieben worden. Warum inszenieren wir sie dann? Seien Sie realistisch! Oper dreht sich nicht um Regeln und Vorschriften. Händels Oratorien sind teilweise dramatischer als seine Opern. Das wissen wir, weil ihr musikalisches Profil radikaler ist als das in seinen Opern.
Bei einem Stück wie „Saul“ weiß man, dass das Schiff stabil bleibt, wenn man während der Proben über den Ozean segelt. Im Gegensatz zu den meisten Opern gibt es hier kein achtminütiges, virtuoses Da-Capo-Feuerwerk. Die größten musikalischen Momente dauern oft nur zwei Minuten, ohne Da-Capo. Händel schafft diese unglaublichen, gewaltigen emotionalen Wechsel innerhalb weniger Takte. Ich finde es außergewöhnlich, was er in seiner Musik herausarbeitet.
Es gibt Momente in „Saul“, in denen man das Narrativ im Stück selbst kreieren muss, und das macht es perfekt für meine Art von Theater, weil man eine ritualisierte Welt erschaffen kann, in der sich die Figuren und das Drama entfalten können. Wir kreieren eine Welt, die der eigenen Logik des Stückes folgt. Händel, Monteverdi und Rameau, diese drei außergewöhnlichen Komponisten, die ich so sehr liebe, brauchen Raum, den man um die Musik herum schaffen muss. Und im Fall von „Saul“ ist es ein seltsamer, assoziativer Raum mit vielen fabelhaften Kostümen, die in gewisser Weise historisch sind, aber nicht historisch genau und diese kreieren eine sehr besondere Welt. Meine Bühnen- und Kostümbildnerin Katrin Lea Tag und ich haben früh entschieden, dass wir kein Interesse daran haben, das Stück realistisch zu inszenieren, was bei vielen Opern von Händel sehr gut funktioniert, aber mittlerweile gang und gäbe und deswegen überflüssig ist, denn wir wollen nicht das immer gleiche reproduzieren. Alles, was Peter Sellars vor 30 Jahren so brillant geschaffen hat, ist heute genauso klischeehaft geworden wie Zeffirellis „Aida“. Mich hat eine surreale, abstrakte, traumähnliche Welt für das Stück interessiert. Realismus dagegen interessiert mich überhaupt nicht. Ich interessiere mich für Poesie und Assoziationen.
Ich interessiere mich für die Theatralik der Bühne. Die Freude am Theater besteht darin, dass die Wahrheit und Schönheit des Lebens durch die Künstlichkeit des Theaters zum Ausdruck kommen. Es ist ohnehin nicht realistisch, wenn jemand zehn Minuten lang „Ich liebe dich“ oder „Ich sterbe“ singt. Oper umfasst die Ritualisierung von Emotionen durch die menschliche Stimme, was absolut nichts mit Realismus zu tun hat.
Ich bin ein extravaganter Minimalist. Und das bedeutet, dass ich oft relativ offene Räume benutze, die entweder mit sehr einfachen Kostümen oder – weitaus häufiger – sehr komplexen Kostümen ausgestattet sind. Man braucht keine komplizierte Architektur auf der Bühne. Ich mag keine szenische Unordnung. Ich mag die Unordnung von Körpern. Ich interessiere mich mehr für relativ einfache – oder nicht einfache, sondern relativ freie – Räume, in denen man mit Körpern und Kostümen und Stoffen und Licht arbeiten kann. Bühnentechnik hat mich noch nie sonderlich beeindruckt. Ich bin daran interessiert, dem griechischen Theater so nahe wie möglich zu kommen. Ich mag diesen offenen Raum, der nicht repräsentativ ist. Durch die Ritualisierung von Musik, Text und Körperlichkeit schafft man etwas Außergewöhnliches. So wie es die alten Griechen taten oder wie Kabuki oder die Peking-Oper funktioniert, all die Dinge, die ich liebe. Und in gewisser Weise haben Shakespeare und Molière ähnlich gearbeitet. Und wenn ein*e Darsteller*in auf der Bühne steht, ist die Bühne nicht leer. Ich höre immer: „Oh, die Inszenierung bestand nur aus einer leeren Bühne.“ Und ich sage: „Nein, das stimmt nicht. Es standen Darsteller*innen darauf.“
Die Darsteller*innen müssen im Mittelpunkt stehen, sie sind der absolute Motor jeder Inszenierung. Sie müssen das Zentrum sein, um das sich alles dreht, das alles zusammenhält und die Inszenierung vorantreibt, nicht die Technik oder die Kulisse. Die Art und Weise, wie man den Theaterraum nutzt, muss vom psychologischen, emotionalen Drama und den Ideen der singenden Personen ausgehen und meine Aufgabe ist es, dies zu realisieren. Ohne die Darsteller*innen und ihre Virtuosität ist das Stück nichts. Die Produktion ist nichts. Händels Werke leben nicht nur von der vokalen Virtuosität der Sänger*innen, sondern auch von ihrer jeweiligen Persönlichkeit. Mit der richtigen Besetzung ist ein Großteil der Arbeit bereits getan.
Barrie Kosky wurde ursprünglich von Cori Ellison interviewt.
© Glyndebourne Productions Ltd.
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