HÄNSEL UND GRETEL
AUF DER ANDEREN SEITE DER WIRKLICHKEIT
von Oliver BinderEINERSEITS, ANDERERSEITS
Ein Männlein steht im Walde. Ein purpurnes Mäntelein trägt es. Und ein schwarzes Käppelein. Wer das wohl sein mag? Die Hagebutte. So lautet des Rätsels Lösung. An den Fliegenpilz aber denkt, wer nur die erste Strophe kennt. Irgendwie spielt der Tod ja doch immer mit. Oder der Wahnsinn. Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel” – mit ihren Schutzengeln und ihrem Hexentreiben, dem ew’gen Schlaf, der Kindsbäckerei und dem Hexenmord – ist alles andere als das Zeugnis einer naiven Komponistenseele. Auch wenn die Oper gut ausgeht. Auch wenn Humperdincks Schwester Adelheid Wette in ihrem Märchenspiel alles daran setzte, eine verzeihliche Mutterfigur zu schaffen. Auch wenn die soziale Härte durch allerlei Liedchen gemildert erscheint. Am Ende wird die Hexe ja doch verbrannt. Lebkuchen hin, Lebkuchen her. Märchen sind meist nun einmal beides: grausam und hoffnungsfroh, grotesk und erhaben. Ihr phantastischer Anteil spiegelt die reale Erfahrung an der Welt. Darum brauchen Kinder Märchen, wie der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim einst dargelegt hat. Darum aber brauchen auch Erwachsene Märchen, meinte sein seelenforschender Kollege Erwin Ringel, „damit sie lernen, ihre Kinder so zu behandeln und zu lieben, dass sie nicht neurotisiert werden.”
HEXEN UND DÄMONEN
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm ihre Sammlertätigkeit. 1812 und 1814 erschienen die ersten beiden Bände der Kinder- und Hausmärchen. Nicht viel Zeit war da vergangen, seit den letzten „Hexen“ der Prozessgemacht worden war: 1775 in Deutschland, 1782 in der Schweiz, 1793 in Polen. Der letzte Kölner Hexenprozess fand 1662 gegen Anne Toer statt. Von etlichen Kölner „Hexen“ spricht man noch heute: Katharina Henot, Christina Plum, En Volmers.
ZWISCHEN WACHEN UND TRAUM
Dagegen nimmt sich die Knusperhexe in Humperdincks „Hänsel und Gretel” vergleichsweise heiter aus. Sie ist dabei nicht weniger gefährlich, aber weit witziger als die Urgestalt im Grimmschen Märchen. In beiden Fällen aber hat die Figur seelenreinigende Funktion. Und doch erfährt die Geschichte selbst so manche Umarbeitung. Die Kinder werden nicht aus unausweichlicher Not vertrieben, sondern von der überforderten Mutter zum Beerensuchen in den Wald geschickt. Es gibt kein Erlauschen eines Planes und keine Gegenlist, mittels Kieselsteinen und Brotkrumen zurückzufinden. Der Weg führt bei Wette und Humperdinck geradewegs zum Hexenhaus. Auch die Lebkuchenkinder sind eine Zutat der Oper. Es gibt am Ende kein großes Wasser, das es zu überqueren gilt, und keine hilfreiche Ente, die beim Übersetzen hilft. Doch stehen Schutzengel den Kindern zur Seite. Nachdem Hänsel und Gretel den Abendsegen gebetet haben, lässt Humperdinck sie in einer groß komponierten Traumpantomime auftreten.
Schützende Engel zählen nicht nur zum Repertoire der naiven Malerei, sondern begegnen immer wieder auch in der bildenden Kunst des Fin de siècle. Man denke nur an Ferdinand Hodler oder Max Klinger. Von Hans Thoma – der später auch die Titelseite des ersten Klavierauszugs mit Hänsel, Gretel, der Hexe und den vierzehn Engeln gestaltete – stammt die Zeichnung „Der Traum”. Im Untertitel nennt der Künstler sie „Von Engeln bewacht”. Und wer weiß, ob nicht auch der ganze Hexenspuk ein Traum ist – eine Reise ins Unbewusste, Unterbewusste, ins dunkle Reich der Seele, in den Wald. Es gilt, sich hinein zu wagen, Ängste zu überwinden, um dann dem Leben fest ins Auge blicken zu können. Jedes Märchen – und „Hänsel und Gretel” in so schlichter wie konzentrierter Form – wird erzählt als Gleichnis für unser Erlebtes und eigenes Erleben. Märchen chiffrieren unsere Realität. Exemplarisch werden uns in „Hänsel und Gretel” zwei Seiten der Wirklichkeit vor Augen geführt.
Das Elternhaus und das Hexenhaus. Auf der einen Seite begegnen wir der Mutter als liebendem, aber überfordertem Elternteil. Auf der anderen Seite sehen wir sie als Hexe, die mit vermeintlicher Sorglosigkeit lockt. Der Weg von Hänsel und Gretel in den Wald und mitten durch die höchste Bedrohung ist auch die Geschichte ihres Erwachsenwerdens. Alleingelassen müssen sie sich bewähren und können dann mit beiden Beinen im Leben stehen. Gereift gehen sie aus Gefahr. Und so ist am Ende Versöhnung möglich.
Gekürzte Fassung aus unserem Programmheft.
Eine Inszenierung, die zum gemeinsamen Besuch einlädt – und zum Eintauchen in eine zauberhafte Welt.